
Im Winter aber sinkt das Thermometer auf minus 40 Grad. Dann werden die Tiere mit in Wohnzimmer geholt, einen Ofen nämlich gibt es nur selten und wenn, dann wird mit Yakfladen geheizt, die im Sommer zum Trocknen an die Häuserwände geklatscht werden. Es gibt also die Häuser, in denen die Tiere im Winter mit in den Wohnräumen leben. Und dann gibt es noch das andere Haus – das, in dem einer jungen Familienangehörigen der Zutritt versagt wird, zumindest im Sommer. Sie ist geistig und körperlich behindert und sitzt in einem offenen Holzverschlag, Stunde um Stunde, Tag und Nacht. Die junge P. lacht auf, als das Team der wunderbaren REWA Society unangekündigt – es gibt weder Internet noch Telefon noch Briefkasten in den Dörfern Zanskars – den staubigen Weg zum Haus ihres Vaters hinaufkommt. Die junge P. also sitzt in ihrem Verschlag, da sie nicht laufen kann, und lacht uns freundlich entgegen: „Julley, Julley!“ Besuch nämlich bekommt sie selten, nur manchmal, da wirft ein Junge aus der Nachbarschaft einen Blick in ihren Menschenverschlag, auch er ist behindert, er weiß, dass man zusammen mehr lachen kann als allein. Der Radius der jungen P. ist kleiner als die des Wachhundes neben ihr an der Kette. Er bellt, als wir an ihm vorbeischleichen, später werde ich sein Kläffen nachahmen und die junge P. wird Juchzen vor lauter Freude. Nachts aber wird es eisig kalt zwischen den Bergen, die junge P. sitzt unter dem Wurzelholz und hat keine Hosen an, ihre Fußnägel bohren sich in ihre Haut, eine Infektion frisst sich in ihren Körper.
Ihre Geschichte liest sich wie ein Märchen. Es war einmal ein junges Mädchen, das lebte mutterseelenallein hinter den sieben Bergen, zwischen den sieben Häusern. Ihre Mutter aber war verstorben und die böse Stiefmutter scherte sich nicht um ihr Wohlergehen. Ihr Vater war verreist und so kümmerte sich der Großvater um seine Enkelin. Der Großvater aber hatte schon 83 harte Winter auf dem Buckel und so kam er nicht, um das Mädchen zu waschen oder gar königliche Ausfahrten in der hölzernen Kutsche mit ihr zu unternehmen. Er kam, stellte dem Hund und dem Mädchen einen Napf und ein Tellerchen Essen in die offenen Verschläge und buckelte davon. Eines Tages aber kommen drei Helferlein aus dem fernen Leh, sie zu waschen, ihr übers Gesicht zu streicheln, Geschichten zu erzählen. Ihr Gesicht erhellte sich, „Julley, Julley!“ rief sie. Und an dieser Stelle endet das Märchen abrupt. Wir Helferlein nämlich müssen hilflos zurückreiten, über die sieben Berge, hinter die Siebe Dörfer. Ein Märchen aber will weitererzählt werden, mit einer Fee, die kommt, ihre Wunden zu heilen und sie wieder laufen zu lassen, mit einem Prinzen, der auf einem Wildpferd daherreitet, sie zu holen, mit einem königlichen Hochzeitsfest, wehenden Gebetsflaggen und der „Und wenn sie nicht gestorben sind“-Glücksformel. Die Wirklichkeitsformel aber lautet anders: Und wenn ihr nicht geholfen wird, lautet sie. „Und wenn ihr nicht geholfen wird, …“ Der Rest bleibt eine traurige Vermutung.